
Axel Scheffler und Julia Donaldson sind als Kinderbuch-Illustrator-Autor-Paar weltberühmt. Ich schätze, mittlerweile hat jede Familie mindestens ein Buch von ihnen im Kinderzimmer liegen oder stehen.
Auch bei uns im Bücherregal leben ihre mutigen Mäuse, ängstlichen Monster, berühmt-hässlichen Tiere, schlafsüchtigen oder willensschwachen Hasen.
Darunter befindet sich auch das Buch über eine neugierige Schnecke, die von einem Buckelwal durch die Weltmeere getragen wird.
Dieses Buch kann mein Sohn auch heute noch nicht leiden. Es ist das einzige Buch des Duos, das er genervt oder gelangweilt (was bei Kleinkindern oft dasselbe ist) weiterblättert, bevor ich die Möglichkeit habe, ihm die Geschichte detailliert vorzulesen.
Ich habe einen Verdacht.
Der Grund für die Antipathie liegt in der Geschichte. Nicht in den Tieren oder einzelnen Bildern, sondern an der Erzählung, die alles wie magisch verbindet.

Die Geschichte ist sehr einfach und geradlinig strukturiert.
DIE SCHNECKE UND DER BUCKELWAL gliedert sich in mehrere Akte. Es gibt die Einleitung (Schnecke will die Welt sehen und lässt sich was einfallen), den Wendepunkt (Wal geht auf die Bitte ein), dann die Reise durch die Welt (Arktis, Vulkanausbrüche usw.), das Stranden des Wals, die Rettung des Wals durch den Einsatz der Schnecke, die abschließende Rückkehr und den Epilog.
Beim Lesen fiel mir auf, dass mein Sohn den Teil zwischen Einleitung und Stranden des Wals überspringt. Die ganze Exotik, die sich seitenweise entblättert, interessiert ihn nicht. Beim Stranden des Wals ist er aber hingegen wieder ganz Ohr (und Auge).
Ich meine den Grund für die neu entflammte Begeisterung zu kennen.
Natürlich liegt es nicht an der Art, wie ich lese – zumindest hoffe ich das. Sondern an der Art, wie sich die Erzählung aufbaut.
Die Reise durch die Welt ist langweilig, weil die Schnecke zu einem Beobachter und Bewunderer reduziert wird. Sie tut bewundern. Das ist öde für eine Hauptfigur. Klar, durch die Reise soll sie die Erfahrung machen, dass sie ganz klein und machtlos gegen die Wunder der Natur ist. Ihr Beitrag zur Rettung des Wals, als er strandet, wiegt dann dramatisch um so schwerer.
Aber der Abschnitt schafft es nicht, zu faszinieren. Die Prämisse fällt flach aus. Es fehlt die Figur, die zielstrebig etwas sucht, etwas tun möchte, mit einer Situation umzugehen gezwungen ist.
Was zeichnet die Episode nach dem Stranden des Wals aus – was macht sie so spannend, dass mein Sohn der Geschichte, die ihn bis dahin gelangweilt hat, gespannt zu Ende lauscht?

Es ist nicht nur die Zielstrebigkeit und Handlungsmacht der Schnecke – sie rettet den Buckelwal.
Noch wichtiger: Es geht um etwas, um eine nicht nur emotional bedeutsame Situation. Etwas steht auf dem Spiel – überlebt der Wal?
Aber noch wichtiger als Handlungsmacht und Fallhöhe ist die Beziehung der beiden Tiere: Der Schwächere hat die Chance – obwohl er das schwächste Glied in einer langen Reihe von Handlungskraftprotzen ist –, sich zu beweisen, den Freund zu retten. Den einen zu retten, der ihm geholfen hat, als er Hilfe brauchte.
Das ist starkes Drama.
Und dazu gesellt sich die ganze Kraft der Metapher:
Das Kind spiegelt sich in der körperlich schwachen, aber mutigen und intelligenten Schnecke: Endlich hat es die Chance, den Erwachsenen zu helfen. Und dankbar stürzt sich die Kind-Schnecke ins Abenteuer.
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