
HOW TO SELL DRUGS ONLINE (FAST) wirft sich in Schale: Szenenbild und Kameraführung erinnern sofort an amerikanische Produktionen – Stichwort: Es dürfen keine weißen Wände im Bild auftauchen! –, kurze animierte Cutaways zwischen den Szenen geben den nötigen Schub an Viszeralität und die fast schon neurotische Fixierung auf Social-Media-Bildschirme zeigt, dass die Macher unbedingt am Zahn der Zeit bzw. am Screen der Jugend bleiben wollen.
Die Serie will es anders machen. Und hat, ähnlich wie DARK vor ihm, erkannt, dass dazu ein hippes Erscheinungsbild, ein ganz eigener Look nötig ist.
Das Feindbild sind sogenannte öffentlich-rechtlichen Sender. HOW TO SELL… will den Ermittlern mit aufdringlichem Privatleben und klinisch sauberen Leichen Paroli bieten und greift zurück auf Genre-Tropen, Jugendslang und Ausdrücke, disruptive Gewalt, realistisch dargestellte Wunden, metaphorisch-bedeutsame Bilder, permanente Voice-Over und direkte Zuschauer-Ansprache.
Alles schön und gut.
Nach zwei Folgen war ich satt.
Ich empfand die Serie als – sagen wir: aufdringlich, als mich ob auf einer Party ein Besserwisser in ein Gespräch verwickeln und mich mit seinen abgefahrenen Ideen und Ansichten unterhalten möchte. Dabei ist er einfach nur langweilig.
Der Serie fehlt nicht das Selbstvertrauen, es fehlt ihr das Herz und so etwas wie menschliche Wärme.
Gerade diese Seite – nennen wir es: menschliche Substanz – ist so viel wichtiger als jeder noch so toll entwickelte Look, der beim Pitch in gläsernen Bürohochhäusern bestimmt leichter überzeugt als eine mündlich vorgetragene, mehrdimensional gezeichnete Figur, die triftige und bedeutsame Entscheidungen zu treffen weiß.
Moritz, die Hauptfigur, jedenfalls ist ein Idiot und Depp.
Beim Entwerfen der Figur kann natürlich die Empathie der Zuschauer durch Tropen mehr oder weniger effektiv gelenkt – aber immerhin gelenkt werden.
Ich habe vier Ansätze gefunden, die bei HOW TO SELL… verwendet werden:
Erstens haben die Macher von BREAKING BAD gelernt. Wenn es schon um Drogen in der Welt der Normalo-Bürger geht, dann sollte der Koch/Dealer aus selbstlosen Motiven handeln. Der Held trifft eine Entscheidung, die ihn auf die schlimme Bahn lenkt. Dann handelt er vor allem aus altruistischen Motiven: Das Amoralische und Unmoralische kann man als Zuschauer der Figur leichter verzeihen als eine Handlung aus pur selbstsüchtigen Motiven. Und natürlich, da wir den Held vor uns haben, sollte jede Entscheidung schön sorgsam als Dilemma präsentiert werden.
Zweitens ist er ein Sonderling und Außenseiter. Das Publikum bringt automatisch dem Außenseiter mehr Empathie oder Sympathie entgegen. Denn – hey! – sind wir nicht alle irgendwo Außenseiter? Hatten wir nicht alle als Teenager das Gefühl, nicht richtig dazu zu gehören? Kitschig, ja, aber effektiv.
Drittens soll die Erfahrung des Verlusts der ersten Liebe uns einen gehörigen Empathie-Bonus schenken. Der Held tut doch alles nur, um seine große Liebe zurück zu gewinnen. Und seine Mama hat ihn auch noch verlassen, der Vater muss nun die Mutter für die Kinder sein – die Geschlechterrollen sind beunruhigend, besonders für einen Teenager. Es gibt ein Defizit in seinem Leben, der sich im doppelten Verlust des Begehrens und der mütterlichen Fürsorge ausdrückt. Kein Erwachsener (die „Freundin“ verweigert ihm den Sex), aber auch kein Kind (die Mutter ist weg) – der Jugendliche soll uns leid tun.
(Es fällt übrigens auf, dass die Autoren und Regisseure alles nur Männer sind. Denken die wirklich, die Entscheidung, einen Drogenumschlagplatz aufzubauen, um seine große Liebe wiederzugewinnen, lässt sich als halbwegs ernste Teenager-Romanze verkaufen? Nun ja, Netflix scheint dem zugestimmt zu haben…)
Viertens, die Meisterschaft des Helden. Er ist einfach ein toller Hacker und Code-Schreiber und kennt sich gut mit Social-Media aus. Kurz: Er kann das, was er macht, besser als die meisten. Der Zuschauer entwickelt augenblicklich Empathie für die Figur, Meister und Genies sind tolle Filmfiguren. Aber hier ist er nicht der Obermeister: Moritz ist nicht halb so gut wie Lenny, er ist der wahre Meister in der Serie.
Das Entwerfen der Empathie-Boni misslingt, da zwar wichtige Eckpfeiler für eine emphatische Figur gelegt wurden, Moritz aber selbstgerecht, verschlossen und draufgängerisch auftritt.
Woran liegt das?
Ich denke, die Macher haben eine Sache bei der Ausarbeitung der Figur vergessen: Relevante Beziehung zu mehreren Figuren. Das ist das wichtigste, daran führt kein Weg vorbei, wenn man eine Figur entwickeln möchte, die uns angeht, mitfühlen lässt, der wir Zeit schenken möchten.
Welche Beziehungen meine ich: Die Beziehung zum Vater, zur Schwester, zu Mitschülern vielleicht. Irgendeine Beziehung zu einem Menschen, wo ich spüre, Moritz bringt sich ein, ihm sind andere Menschen wichtig. Sein Leben dreht sich nicht nur im Dreieck von Freundin und bestem Freund, sondern es gibt mehr. Er ist kein selbstgerechter Idiot, der den besten Freund ausnutzt, um sein gebrochenes Herz zu heilen, sondern gibt etwas als Mensch den anderen Mitmenschen zurück.
Übrigens: Wenn man sich dazu entscheidet, einen unsympathischen Menschen als Helden zu porträtieren, dann kann man das gerne tun. THE SOCIAL NETWORK ist ein Paradebeispiel, wie eine Figur auch mit all ihren abweisenden, egoistischen Zügen Zuschauer an den Bildschirm fesseln kann.
Zum Schluss: Die Serie macht einen großen Fehler. Man stelle sich vor, wie packend und faszinierend dieselbe Geschichte wäre, wenn wir statt Moritz Lenny folgen könnten. Wenn er ein Projekt mit dem besten Freund entwickelt, dieser ihn übers Ohr haut und sich langsam ein antagonistisches Verhältnis zwischen den Freunden aufbaut. Kein weltbewegend origineller Stoff, aber mit dieser Figur wäre sie trotzdem einmalig. Hier verschenkt die Serie Potential. Und verrät auch diese großartige Figur am Ende der zweiten Folge – und dann habe ich lieber etwas anderes geguckt.
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Wow, großartiger Kommentar! Der bringt meine Kritikpunkte mit der Serie wunderbar auf den Punkt und ich kann dir eigentlich in allen Belangen zustimmen.
Ich habe sie dennoch zu Ende geschaut, weil wirklich Langeweile nicht aufkam und die Serie ein gutes Pacing hat – nur eben lässt sie bei den Figur federn, sehr schade! Ansonsten finde ich sie ganz solide