ROCCO, ein Dokumentarfilm, der den legendären italienischen Porno-Darsteller Rocco Siffredi porträtiert, und HOT GIRLS WANTED, eine Netflix-Poduktion, die sich der Sex-Industrie in all ihren Facetten nähert, widmen sich einzelnen Porträts von Menschen, die in der Sex-Industrie arbeiten.
Das ist soweit ganz interessant. Schauen wir mal, was beide Filme über das System der Porno-Produktion zu sagen haben. Sie treffen Aussagen auf ganz unterschiedliche Weise: Bei ROCCO rauschen die Industrie und ihre Praktiken im Hintergrund und entdecken sich leise dem Beobachter.
HOT GIRLS WANTED aber bringt die Industrie mit schwarzen Texttafeln ins Bild: Statistiken über die Industrie und die Porno-Konsumenten klären den Zuschauer auf. Die Methode von HOT GIRLS WANTED ist ein Totschlagargument, ein Friedhof der Bilder: Die Informationen können wir in Artikeln nachlesen, als Dokumentarfilm aber sollte der Anspruch bestehen bleiben, das Material (den Ausschnitt der Welt zu einer bestimmten Zeit, der in eine Folge von Verdichtungen eingebettet wird, um im Film erst Sinn zu produzieren) dem Zuschauer zu retten, nahe zu bringen, eine Begegnung herbeizuführen. Die Texttafeln sind leere Zeit, die uns filmisch kalt lassen und nur unseren Intellekt ansprechen – das Gegenteil eines guten Films, es ist einfach nur Info-tainment.
ROCCO ist kein herausragender Dokumentarfilm, bestimmt nicht. Aber im Modus der immerwährenden Beobachtung und Gesprächsaufzeichnung, die in der Montage zum Sinngefüge und zur Aussage verdichtet werden, lassen sich schöne Szenen entdecken, die fern vom Protagonisten eine Wahrheit konstruieren, die auf das System Sex-Industrie verweist.
Ein Beispiel: Nach einem Gang-Bang (eine Orgie mit mehreren Männern und proportional wenigen Frauen – das Verhältnis kann beispielsweise zwanzig zu eins betragen) gehen die Akteure duschen, eine Dusche für jungs, die andere für die Mädchen. Die Jungs johlen, schreien, singen unter der Dusche, Ausgelassenheit ist Programm. Die junge Frau aber duscht alleine, ganz bei sich, pflegt ihren Körper und beginnt mit Reinigungspraktiken im Intimbereich.
Das Aneinanderschneiden beider Szenen ermöglicht dem Zuschauer plötzlich einen Sinn zu finden, wo es davor keinen greifbaren, keinen unmittelbaren, gab. Es wird augenfällig, ganz konkret, wessen Blick und wessen Perspektive auf Sex und Geschlechtlichkeit in solchen bewährten Gangbang-Szenen der Sex-Industrie dominiert und wer beherrscht wird. Diese Erfahrung wird im Modus der Beobachtung von uns empathisch erfahren, sie geht uns an und ermöglicht eine neue Erfahrung.
Und das ist dann doch wieder ein guter Dokumentarfilm.