Ein trauriger, toller Film. Wovon lebt MANCHESTER BY THE SEA außer oder jenseits der großartigen Performance der Darsteller? – Ich finde: Es ist das Drehbuch, es ist beeindruckend gut geschrieben und fühlt den Seelenzustand einer tragischen Figur anteilnehmend nach.
Schauen wir uns das Drehbuch jenseits der formalen Struktur an, jenseits der Plot Points usw. Die wichtigste Zutat für Geschichten sind immer noch die Beziehungen der Figuren, und hier stellt sich die Frage: Wie können wir die Beziehung von Lee und den Frauen (die unbekannten, die by-stander) bezeichnen?
Die Antwort ist leicht: Sie hassen ihn. Er versucht Frauen zu meiden – das macht uns das Buch von Anfang an klar. Seine selbstzerstörerischen Tendenzen, gemischt mit Apathie, verdichten sich in bar fights, die er aktiv aufsucht. Er lässt sich schlagen, geht aller Verantwortung aus dem Weg, ein Zombie ausgesetzt auf einer Eisscholle – leblos, und falls er sich doch bewegen will, dann bringt es ihm auch nichts.
Gleich zu Beginn zeigt uns Kenneth Lonergan die Antipathie und Ablehnung der Frauen mit mehreren Szenen, die brillanten Dialog aufweisen. Brillant, weil die Sprache direkt, umgangssprachlich ist, auch merkwürdig konfrontativ oft und uns als Zuschauer im Dunkeln über die Figur lässt. Der Film dreht sich nicht um die Toilette oder den Abfluss der Mieterinnen, deren Sanitäranlagen Lee in den Szenen reparieren muss. Der Film dreht sich um Lee und seinen seelischen Zustand. Die Banalität der Szenen wirkt wie eine Ohrfeige angesichts der Schwere seiner Schuld – oder auch: seines Unglücks.
Der Dialogaustausch existiert ausschließlich als Tor zu seiner Seele, zu ihm. Sein Innenleben wird nach außen gekehrt, damit wir als Zuschauer Lee und seine Perspekive leicht betreten können. Gleichzeitig wird das Thema „Frau vs Lee“ etabliert, das das Hauptthema neben Elternsein ist. Der Dialog steht im Zeichen des Subtexts, der mitfließende Text, der gleichzeitig mit dem Dialog läuft.
Wenn der Film voranschreitet, merkt der Zuschauer schnell, dass Frauen Lee hassen, wohingegen Männer ihm gegenüber eher neutral bis nachsichtig eingestellt sind. Das Wissen um den Hass bleibt lange im Dunkeln, bis eben das Geheimnis, das unvorstellbare Unglück, der Grund für den Hass der Frauen, aufgedeckt wird. Der Hass ist als Thema in die Geschichte eingearbeitet, ein Hass, der nicht unbegründet – soweit Hass das sein kann- und tragisch ist.
Lees Erlösung liegt auch darin, den Hass aufzulösen oder ihm zumindest etwas von der Schwere zu nehmen. Die Erlösung kommt Schritt für Schritt, auf leisen Sohlen. Diesen Prozess kann Kenneth Lonergan verdammt gut darstellen.
Unter diesem Link findet Ihr das komplette Drehbuch legal zum Download.